Entfaltung der Stimme – Singen mit Leib und Seele

Erkundungen zum Funktionskreis "Stimme" - Klangspektrum - Vergleich


Klangspektrum von verschiedenen Stimmen am Beispiel "Du bist die Ruh"

Zu dem Schubertlied "Du bist die Ruh" habe ich zum Vergleich die Klangspektren von den Aufnahmen folgender Sängerinnen und Sänger zusammengestellt: Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Matthias Goerne, Bryn Terfel, Christian Gerhaher, Nicolai Gedda, Janet Baker, Margaret Price und am Ende eine Aufnahme von mir.

Dazu habe ich jeweils kurze Beschreibungen gesetzt. In der letzte Beschreibung zu meiner Version finden sich zusätzlich genauere Ausführungen zu musikalischen und harmonischen Aspekten des Liedes und zu seiner sängerischen und klanglichen Gestaltung


Auf den Audio-Dateien sind der Beginn zu hören ("Du bist die Ruh, der Friede mild, die Sehnsucht, du, und was sie stillt. Ich weihe dir, voll Lust und Schmerz, zur Wohnung hier mein Aug und Herz") und vom Schluss die beiden Versionen "Dies Augenzelt, von deinem Glanz allein erhellt", einmal mit dem Forte-Schluss und einmal mit dem Abschweller auf "erhellt".

Auf den Bildern vom Klangspektrum sind die erste Zeile "Du bist die Ruh, der Friede mild" zu sehen und vom Schlussteil der Ausschnit "...Glanz allein erhellt" (beide Versionen).

Die Noten des Liedes finden Sie in der Pdf-Datei.   Für die komplette Aufnahme stelle ich jeweils den Youtube-Link dazu.


Dietrich Fischer-Dieskau 1951 - 26 Jahre

Dietrich Fischer Dieskau        YouTube Link

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Dieskau singt am Anfang dynamisch sehr fein abgestimmt. Sein Pianissimo ist abgedämpft, der Klang hat wenig Teiltöne, vereinzelt kommt über Vokale ein leichter Schimmer hinein. In den starken Portamenti bei "dir" und "Herz" hört man den 50er-Jahre Stil. Im Verhältnis zum Beginn ist das verfrühte Crescendo zum Forte (in den Noten erst ab "Glanz...") für mein Verständnis viel zu stark aufgedreht. Im Forte ein breites brillantes Klangspektrum bis über 3000 Hz (10. Teilton, die Terz zu f1). Neben dem starken Atemgeräusch, musikalisch und textlich unpassend vor dem "erhellt", ist das deutlich rollende "r" im "erhellt" nicht nur sprachlich falsch, sondern stört ungemein. Der Abschweller in der Wiederholung mit klingendem Piano mit ruhigem Vibrato ist einfach nur traumhaft. Das konnte so nur der junge Dieskau.



Hermann Prey 1960 - 31 Jahre

Hermann Prey        YouTube Link

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Bei Hermann Prey gibt etwas mehr Farben als bei Dieskau. Das "u" von "Du" und von "Ruh" ist abgedämpft, während das "bist" mit zu starken Vokalfarben herausragt. Wie immer bei Prey klingt vieles leicht nasal. Ab "Dies Augenzelt...  gibt es Brillanz zwischen 2500 und 3000 Hz und bei "erhellt" ein prachtvolles Forte mit mehr Klangstruktur als bei Dieskau. Den Abschweller kann er sogar bis in die "l"-Konsonanten weiterführen.



Matthias Goerne

Matthias Goerne        YouTube Link

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Goerne nimmt ein manieriert langsames Tempo. Den ersten Teil singt er in seiner typischen Art mit ziemlich verschattetem Klang. Die klanglich-dynamische Textgestaltung ist stimmig. Der Atem ist im Verhältnis zum Singen sehr laut. Das Crescondo macht er, wie es in den Noten steht. Den Abschweller läßt er ausfallen und setzt noch einen leichten Drücker drauf.



Bryn Terfel

Bryn Terfel        komplette Aufnahme

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Terfel singt auch im Piano mit einer relativ farbenreichen Stimme und einem schönen Bogen zu "Friede" hin. Das Crescendo baut er gleichmäßig auf, das Forte müßte nach meinem Empfinden gerade bei diesem Lied nicht so stark sein, aber es knallt nicht raus und wirkt nicht künstlich aufgepeppt. (Manche Sänger möchten wohl immer gern zeigen, was sie drauf haben vom Piano bis zum Fortissimo, auch wenn in den Noten nur Forte steht, das auch nur im Klavierpart, nicht in der Gesangsstimme.) Im Forte gibt es beim ersten Mal einen gut ausgeprägten Sängerformanten um 3000 Hz, beim zweiten Mal sogar etwas bei 8000 Hz und dann einen für einen Bassbariton wunderbar gelungenen Abschweller in eine ganz zarte Kopfstimme (typisch Terfel).



Christian Gerhaher

Christian Gerhaher 2005        YouTube Link

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Gerhaher singt am Beginn ein sehr weiches Piano, ohne Vibrato und mit so wenig Obertönen, dass auf dem Bild die Gesangsstimme zunächst kaum vom Klavierklang zu unterscheiden ist. Die harmonische Entwicklung ist in der Singstimme nicht zu hören. Die feine Klangentfaltung auf "Friede" ist dann umso schöner. Wie oft bei Gerhaher stören mich das artikulierte "r" bei "zur", "dir" und "hier". Dafür hört man das End-"t" von "stillt" nicht. Die Steigerung im letzten Teil vom Piano ins Forte ist sehr angemessen, ohne Übertreibung kommen viele leuchtende Farben hinzu. Er atmet in beiden Versionen unterschiedlich, beim ersten Mal hinter "Glanz", ohne die Linie zu unterbrechen, beim zweiten Mal beim Komma hinter "Augenzelt", muss aber vor "erhellt" nochmal nachatmen (aus Not oder um das letzte Wort hervorzuheben?). Im Gegensatz zu anderen Sängern, die die letzte Phrase erheblich überdehnen, verkürzt er den Abschweller deutlich und ohne dass man das End-"t" hört. Dadurch geht der rhythmische Bezug zum Herzschlagpuls in der Begleitung verloren, obwohl Gerhaher ansonsten relativ genau singt



Nicolai Gedda

Nicolai Gedda 1964 - 39 Jahre        YouTube Link

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Weil es so schön gesungen ist und so ein herrliches Klangspektrum zu sehen ist, habe ich die beiden obersten Bilder noch hinzugefügt.Gedda hat offenkundig und offensichtlich die schönsten Farben, sowohl im Piano als auch im Forte, ein durchgehendes Vibrato und eine prägnante Brillianz um 3000 Hz, unabhängig von der gesungenen Tonhöhe und den Vokalen, fein schimmernd im Piano und mit höchster Erregung für die Ohren im Forte, dann auch Frequenzen bei 7-8000 Hz. Die Brillanz ist so dominierend, dass der Tonhöhenmarker des Overtone Analyzers "nicht weiß", wo er die Tonhöhe markieren soll, bei "as1" oder beim 5. Teilton, der Quinte "es4" (2500 Hz). Äußerst elegant auch der Abschweller in ein fein schimmerndes Piano auf dem hohen "as".

Gedda singt das Lied sehr langsam, wie Goerne, bei dem ich das ausgedehnte Tempo eher als unangenehm und manieriert empfinde, während es mir bei Gedda erst gar nicht so aufgefallen ist, weil er die vielen Farben und die stimulierenden hohen Frequenzen in seiner Stimme hat, die das Ohr leichter faszinieren und anregen und mit denen er mehr gestalten kann.



Frauenstimmen haben naturgemäß nicht so ein breites und ausgeprägtes Farbspektrum wie Männerstimmen es von der tieferen Stimmlage her durch das ausgedehntere Obertonspektrum haben können. Auch die Vokalfarben können nicht so differenziert ausgemalt werden (vgl. "Friede" bei Dieskau und bei J. Baker). Auch die Brillanz kann sich nicht so, wie z.B. bei Gedda, in einem silbrigen Klangfaden unabhängig von der Tonhöhe zeigen, da beim "fis2" des "erhellt" schon der 4. Teilton (2. Oktave fis4) bei 3000 Hz liegt.


Janet Baker

Janet Baker        YouTube Link

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Janet Baker hat ein schönes leichtes, schwebend klingendes Piano zu Beginn, wie es vielleicht eher einer Frauenstimme gelingen kann. Das gleichmäßige Crescendo führt in ein glänzendes Forte hinein, das "f2" von den hohen Frequenzen her als voller Grundton intoniert mit dem 4. Teilton bei "f4" (˜3000 Hz) und der markanten Terz als 5. Teilton darüber.

In der Wiederholung eine phänomenale ruhige Atemführung, ein hör- und sichtbares Legato und am Ende aus einem leuchtenden Forte (mit 5000 Hz) ein Abschwellen ins zarteste klingende Vibrato auf dem hohen F. (Nur singt sie die Wiederholung ohne den Quartsprung und in einer anderen Aufnahme vertauscht sie die Wiederholung.) Durch die reichhaltige Brillanz in der Stimme entsteht in der Intonation der musikalisch und sängerisch überzeugende Eindruck, dass das Klangspektrum sich nicht einfach einen halben Ton nach oben bewegt, sondern dass die strebende Energie des Dominantseptakkordes mit dem "e" in der Gesangsstimme (Leitton nach F-Dur) noch auf dem Zielton "f" (Grundton) sowohl weiterstrebt in das komplette Spektrum des Grundtons hinein (mit all seinen Obertönen auch über 5000 Hz hinaus), als auch als kompletter voller Klang ankommt in der neuen Tonart und angebunden ist an die tiefe Oktave im Klavier.



Margaret Price

Margaret Price        YouTube Link

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Margaret Price singt in As-Dur, eine Kleine Terz höher als J. Baker.

Im Piano zu Beginn hat M. Price deutlich mehr Leuchten in den Obertönen als J. Baker. Im zweiten Teil ("Dies Augenzelt...") beginnt sie ähnlich wie J. Baker auch schon im Piano mit leuchtenden Obertönen, so dass sie im Crescendo nicht aufdrehen will oder muss (wie manche Männerstimmen), sondern den Klang größer und vor allem leuchtender werden lassen kann. Allerdings kann und muss er in dieser Lage ("erhellt" f2 - g2 - as2) nicht mehr farbig so voll sein wie beim Mezzo Baker. Der Klang von M. Price kann sich in der letzten Halbtonbewegung "g-as" vom voll klingenden Es-Dur-Dominantseptakkord mit seiner gesungenen Terz "g" als Leitton im wahrsten Sinne des gesungenen Wortes "erhellt" zum "as" hin aufhellen in den licht und zugleich harmonisch komplett klingenden Grundton "as" hinein, der mit den Teiltönen Oktave und Quinte hinreichend als Grundton zu hören ist und zugleich gar nicht "grundtönig"wirkt.

Durch das Spektrum der hohen Frequenzen in der Stimme ist nicht einfach eine Tonhöhenveränderung zu hören, die kleine Sekunde von "g" nach "as", was in der Lage einen Unterschied von 46 Hz (!) ausmacht. Die Tonhöhenbewegung klingt deshalb so fein und leicht, weil im Klang der Stimme wie bei J. Baker sich mehr eine harmonische Modulation vollzieht und sich, wie bei beiden Sängerinnen im Spektrum zu sehen ist, die Struktur des Klangs ändert durch eine unterschiedlich starke Ausprägung der Intensitäten auf den einzelnen Teiltönen bzw. Frequenzen des Spektrums. Wie Janet Baker hat sie als Engländerin offenkundig Schwierigkeiten das auslautende "z" von "Herz" zu artikulieren.) Im Rhythmus singt M. Price etwas vorwärts drängend im Gegensatz zu der ruhigen und gleichmäßigen J. Baker.



Johannes Quistorp 2014 (67 Jahre) - Klangbilder einer Aufnahme von mir

Johannes Quistorp

Die Bilder vom Klangspektrum des ganzen Liedes finden Sie hier Schubert: Du bist die Ruh - Klangspektrum und die komplette Aufnahme hier: Schubert: Du bist die Ruh

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(Ich singe das Lied einen halben Ton tiefer als in der "tiefen Lage", also in A-Dur.)

Du bist die Ruh

Das Bild vom Klangspektrum des Liedbeginns von meiner Aufnahme ist im Vergleich zu allen anderen das farbigste, es zeigt ein sehr dichtes und zugleich differenziert ausgeprägtes Spektrum der Teiltöne und eine kontinuierliche Brillanz (Sängerformant bei 3000 Hz), die bei den entscheidenden Worten gut fokussiert ist.

In meiner Aufnahme ist so zu sehen und zu hören, dass es auch im Piano möglich ist, klangvoll und farbenreich zu singen, jedem Vokal sein angemessenes Vokalspektrum zu geben und die Konsonanten, ohne das Piano zu stören, hinreichend deutlich zu artikulieren ("bist"). Oft hört man in Piano-Liedern ein vokalisches Piano, bei dem das Piano durch generelle Reduktion der Klangfarben und insbesondere durch ein Abdämpfen der Vokale manipuliert wird, was, wie in einigen von den Beispielen, dazu führen kann, dass der Vokal "u" im einleitenden "Du" ganz matt klingt, das "i" in "bist" dagegen sehr hell und stark, obwohl dadurch unpassenderweise die Zwei im Takt betont erscheint und das "Du" als das Subjekt des Satzes klanglich und damit musikalisch eher untergeht. Und bei den Konsonanten ist es im Piano oft so, dass sie verschwimmen oder, was im Piano besonders störend ist, zu stark und falsch artikuliert werden (rollendes "r" in "der Friede", zu starkes "t" in "mild" oder kaum hörbares "z" in "Herz").

Wenn nicht von Anfang an eine ausgewogene Balance von gesungener Tonhöhe, Vokalfarbe und Klangspektrum mit ausgeprägter Brillanz gerade im Piano vorhanden ist, kann es allzu leicht passieren, dass Nebensilben, unbetonte Taktteile und unwichtige Worte zu stark werden (z.B. "Frie-de" bei Terfel).


Für meine Klangvorstellung ist es entscheidend, dass schon in dem "Du" des Beginns klanglich das ganze Spektrum des Liedes aufscheint wie ein Kernreiz für die Ohren, der bis zum Forte des Höhepunkts bei "erhellt" trägt; dass in dem "Du" sowohl "die Ruh" und "der Friede" anklingen können als auch "Lust und Schmerz"; und dass das Ohr des Zuhörers angeregt und geöffnet wird für ein unmittelbares und sinnliches Erleben der klanglichen und musikalischen Ereignisse. Da bei mir gleich der erste, alles entscheidende Vokal, das "u", ein kompelttes Spektrum bis zum 5. und 6. Teilton (Terz und Quinte) hat, und die Brillanz bei 3000 Hz deutlich hörbar ausgeprägt ist, kann der Vokal in jeder Hinsicht initiierend und stimulierend für das Ohr wirken, für mein Ohr und für das des Zuhörers. (Erklingen, wie meist zu hören, hauptsächlich Tonhöhe und Sprachvokal, und das auch noch abgedämpft, hört man weder eine klare und harmonisch ausgeprägte Tonhöhe noch einen verständlichen Vokal. Der Vokal "u" klingt eher hohl, ohne spezifischen Charakter und man hört keinen Unterschied zwischen langem und kurzem "u", z.B. "Luust" oder "uund" wie bei Prey.) Im Übrigen ist der Vokal "u" bei den meisten Sängern nicht sehr obertonreich.


Im Vergleich mit den anderen Stimmen ist in meiner Fassung zu sehen, dass der Tonhöhenmarker nicht die gesungene Tonhöhe anzeigt, sondern den 2. Teilton, die Oktave. Dadurch wirkt der Klang nicht so "grundtönig" wie bei anderen Sängern, er wirkt heller und bekommt etwas schwebendes, was durchaus zum Charakter des Liedes passt. Schubert schreibt auch in diesem Lied keinerlei dynamische Bezeichnungen in die Gesangsstimme. Im Klavier steht in der Einleitung und beim Einsatz der Gesangsstimme pianissimo. Die meisten Sänger beziehen das offenkundig auf die Gesangslinie und die Vokalfarbe, die beide im Piano reduziert und abgedämpft werden. Das von mir zu Beginn gewählte Piano orientiert sich am Klangspektrum der Harmonienfolgen in der Klavierbegleitung, wie sie in der Gesangslinie zum Ausdruck kommen, an den Vokalfarben und an der Brillanz als Stimulation und Leitgefühl für die Ohren. So kann das Piano in feinen hellen Farben aufblühen, alle Vokalfarben können in Erscheinung treten und die Gesangslinie ist nicht nur in der Intonation klar wahrnehmbar, sondern fügt sich hörbar in die harmonischen Wendungen.


Der schwebende Charakter und die Orientierung an den hohen Frequenzen ist gerade bei diesem Lied musikalisch und harmonisch von grundlegender Bedeutung. Schubert hat das Lied für eine Männerstimme komponiert. (Ich beschreibe hier die Fassung für tiefe Stimme in B-Dur.) Der Klavierpart liegt aber beim Einsatz der Singstimme in der hohen Lage mit dem Kleinen B als Grundton im Bass, so dass die männliche Singstimme mit dem Kleinen F als Quinte unter dem Basston des Klaviers liegt. Man hört faktisch also einen schwebenden Quartsextakkord ohne den Grundton B im Bass und in der Singstimme klingt die Quinte von B-Dur. Wenn dann die Singstimme im zweiten Takt vom F zum G aufsteigt, wechselt die Harmonie nach g-moll, die Paralleltonart von B-Dur, während im Klavierpart weiter das Kleine B als Terz von g-moll als tiefster Ton zu hören ist. Dadurch liegt jetzt durch die Singstimme im Gesamtklang der Grundton von g-moll in der Bassstimme. In meiner Version wird das in der Weise hörbar, dass die Melodie zwar einen Ganzton nach oben singt, aber das Klangspektrum der Singstimme grundtöniger wird, d.h. räumlich voller, farbenreicher, heller und dunkler. Damit wirkt das höhere G als Grundton, als würde es tiefer klingen und wegen der bedeutungsvollen Wendung nach Moll wirkt es auch etwas weicher.


Mit den Worten "Friede mild" wendet sich die Harmonie wieder nach B-Dur, auf der Hauptsilbe von "Friede" mit dem Grundton B in der Singstimme als den am höchsten klingenden Ton (hohe Lage der Männerstimme), während im Bass im Klavier nicht der Grundton, sondern das Kleine D als Terz von B-Dur klingt (ein Sextakkord). Mit der Nebensilbe strebt die harmonische Fügung durch den F-Dur Septakkord mit dem Grundton im Bass zum leuchtenden B-Dur von "mild" mit dem hohen B im Bass des Klaviers und derselben Tonhöhe in der Singstimme, die aber am Ende der Phrase wie die Oktave zum Grundton klingt, oder anders gesagt, es klingt wie schon zu Beginn mehr der 2. Teilton. Damit die ins Helle, Lichte strebende Wirkung am Ende der ersten Phrase zur Geltung kommen kann, darf die Halbtonbewegung "b-a-b" (Friede mild - B-Dur/F7/B-Dur) nicht als simple Halbtonbewegung gesungen werden (wie bei Gerhaher und Prey), sondern das "a" muss als Leitton zu B-Dur intoniert werden, als würde schon im F-Dur die Quinte F von B-Dur über dem "a" mitklingen.


Wenn die Singstimme ein abgedämpftes Piano singt, muss die Klavierbegleitung, die eh nur aus wenigen Tönen besteht, sehr leise spielen, so dass von diesen harmonischen Wendungen im Gesamtklang eher weniger zu hören ist, vor allem wenn sie sich nicht im Klang der Gesangsstimme niederschlagen. Mein Bestreben richtet sich darauf, nicht nur das zu singen, was in der Gesangsstimme steht, sondern in meiner Stimme in der Intonation, der Phrasierung und der Differenzierung im Klangspektrum die ganze Musik in all ihren harmonischen Schichtungen und Wendungen in meiner Stimme hörbar werden zu lassen, d.h. unter anderem keinen Piano-Effekt zu erzeugen, sondern gerade das Piano in besonderer Weise zum Klingen zu bringen.


Nun zur Zeile "Dies Augenzelt, von deinem Glanz allein erhellt":

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Dies Augenzelt

Die Zeile beginnt in B-Dur, der Tonart des Liedes, mit der Quinte "f" in der Gesangsstimme, wie am Beginn des Liedes, wendet sich dann aber nicht nach g-moll, sondern überraschend mit einem Halbton nach Ges-Dur (!), der Grundton B wird nicht wie zu Beginn zur Terz der Mollparallele, sondern rückt im wahrsten Sinne des Wortes in eine sehr weit entfernte Terzverwandtschaft, so dass das "Augenzelt" in eine andere Welt entrückt zu werden scheint, durch die sich dann die Stimme in einer Ganztonleiter (ges-as-b-c-d !) emporbewegt bis zum B-Dur-Septakkord mit dem "d" als Leitton, um dann in einer letzten Halbtonbewegung zum Es hin auf der Subdominante von B-Dur anzukommen, mit dem Grundton in der Melodie als Zielton. Dazu spielt das Klavier drei Oktaven tiefer im Bass den verdoppelten Grundton. Eine Halbtonbewegung führt in die Ganztonleiter hinein und eine hinaus mit der Harmonienfolge: B-Ges-Des-Ges-F-B7-Es, angereichert im Klavier durch Quart- und Sekundvorhalte.

Bis zu den Schlussakkorden dieser Phrase auf "(er)hellt" (B7 - Es) sind durchgängig vom Beginn des Liedes an im Klavier Sechzehntel-Figuren zu hören, wie ein ruhig pulsierender Herzschlag, der sich nun auflöst im weiten hellen Glanz des Klangraums. Und dann: eine Generalpause! Stille, in die hinein noch ein Schimmer des Forteklangs nachhallen kann. Und nach drei Achteln erfüllter Stille setzen punktgenau Gesang und Klavier wieder ein, als hätte das Herz unhörbar ruhig weiter geschlagen - "o füll es ganz!" - das Klavier wieder mit Sechzehntel-Figuren und die Singstimme mit einer Sechzehntel-Melodie, erst mit einer diatonischen Quinttonleiter, dann mit einer chromatisch angereicherten Quarttonleiter mit Moll- und Dur-Terz.


In der Wiederholung "von deinem Glanz" schwingt sich die Stimme in der "entrückten" Tonart Ges-Dur zur Quarte auf als Septime des Dominantseptakkordes, die zur Terz von Ges-Dur führt, als wollte sie in dieser fernverwandten Tonart ankommen. Doch im "Glanz" wird sie wieder ergriffen von der Strebe- und Weitungskraft der Ganztonleiter, die sie schließlich in die lichte Weite von Es-Dur führt. Nach der Bewegung von der Quarte in Ges-Dur zur Terz wirkt der Ganztonschritt im "allein" jetzt von der Terz in die übermäßige Quarte besonders stark, wie eine Bewegung heraus aus der vertrauten Ordnung. Und dann rückt das Klavier gleichzeitig auch noch die Harmonie von Ges-Dur einen halben Ton tiefer nach F-Dur, eine sogenannte Akkordrückung, die als Gegenbewegung zur Melodie hier in der Wiederholung noch stärker wirkt als beim ersten Mal. Während die Melodie mit Ganzton und Leitton in die Oktave strebt, öffnet die Basslinie nach der Halbtonrückung über zwei fallende Quinten den Weg in größtmögliche Tiefen mit dem Kontra-Es drei Oktaven unter dem Melodieton.


"Dies Augenzelt, von deinem Glanz allein erhellt, −−− o füll es ganz!" − welch eine Kompositionskunst!


Eine Ganztonleiter ist etwas ganz Außerordentliches in einem romantischen Lied. Mir ist sie erst beim Schreiben dieses Textes und der harmonischen Analyse richtig bewusst geworden. Bisher ist mir eine Ganztonleiter in einer Gesangsstimme nur bei Debussy begegnet. Über die "Entrückung" in das entfernte Ges-Dur hinaus entsteht so durch die aus der diatonischen Ordnung fallende Reihung von Ganztönen eine ungeheuer starke strebende Wirkung bis zum letzten Halbton bzw. Leitton in den Zielton hinein. (Diatonisch bedeutet den Wechsel von Ganz- und Halbtönen in einer Tonleiter, durch die innerhalb einer Tonleiter rückführende oder strebende Kräfte entstehen.) Vom "Glanz" in das "allein" hinein vollzieht sich die Wende aus der gewohnten Ordnung hinaus, so dass sich der Glanz in die Fülle des Klangspektrums weiter ausdehnen kann.


Am Beginn der Zeile steht keine dynamische Bezeichnung im Klavier, beim ersten Mal ein Crescendo im Wort "Glanz" und ein Forte auf dem "(er)hellt", beim zweiten Mal ein Crescendo im Wort "deinem", ein Schweller vom "allein" zum "erhellt" und auf dem "(er)hellt" wieder ein Forte mit einem Abschweller in den Schlussklang hinein. Nach der Generalpause steht im Klavier ein Pianissimo bei "o füll es ganz".

Tempo und Rhythmus: Außer Goerne und Gedda wählen alle passend zum Thema des Liedes in etwa das Tempo Achtel = 60, also den Ruhepuls des Herzschlags von 60 Sekunden pro Minute, also 1 Achtel = 1 Sekunde. Bei Goerne und Gedda dauert ein Takt eine ganze Sekunde länger, was sehr viel ist. In der letzten Zeile "Dies Augenzelt..." bin ich der einzige, der nicht nur das singt, was in den Noten steht, sondern auch den Puls genau beibehält und das rhythmische Gefüge, wie oben beschrieben, mit Sechzehnteln, Akkorden, Dynamik und Generalpause voll zur Geltung bringt. Als ich alle Aufnahmen daraufhin verglichen habe, war ich ziemlich erschüttert, wie beliebig und willkürlich mit Tempo und Puls umgegangen wird. M. Price zieht das Tempo an und wird auf den Akkorden langsamer. Alle verzögern mit "er-hellt" in die Akkorde hinein, die meisten überdehnen die letzten beiden Töne und manche ziehen sie extrem in die Länge. Dadurch kann die Musik aus sich heraus keine Wirkung entfalten, weder in der besonderen Modulation, noch in der Strebekraft der Ganztonleiter, noch im pulsierenden Herzschlag. Und die Generalpause macht auch keinen Sinn, weil kein Puls mehr da ist. Man kann am Ende der Zeile gar den Eindruck haben, es gäbe ein Ritardando in den Schlussklang hinein. Da muss der Pianist schon höllisch aufpassen, dass er nicht zu spät nach der gefühlten Unterbrechung einsetzt (was teilweise der Fall ist).


Eine solche Zeile kann und muss natürlich nicht auf einen Atem gesungen werden. Nur wo und wie soll und darf zwischen- oder nachgeatmet werden, ohne Stress, ohne Tricks, nicht aus Not, nicht auf einen Effekt hin und ohne viel Geräusch? Und vor allem, wie entspricht der Atem zum einen dem Sinn und der Struktur des Textes und zum andern dem Sinn und der Struktur der Musik, dem Charakter der melodischen Linie und dem harmonischen Gefüge.

Meine Losung in Bezug auf den Atem ist: nicht aus Not, ohne Stress und möglichst geräuschlos atmen sowie sich nicht mit Atem den Einsatz geben. Positiv gesagt: im Puls rhythmisch einatmen, mental die Phrase und den Wortsinn einatmen, zwischenatmen mit der musikalischen Struktur und Phrasierung. Ich atme in beiden Versionen beim Komma hinter "Augenzelt", ohne dass ein Atemgeräusch zu hören ist, und nehme einen kurzen unmerklichen Nachatmer nach dem "z" von "Glanz". Beide Male und in beiden Versionen in unterschiedlichen Qualitäten: beim ersten Mal hinter "Augenzelt", um mit dem Komma einen Doppelpunkt zu setzen, und in der Wiederholung, um den Quartsprung vorzubereiten; zwischen "Glanz" und "allein", um die Steigerung zu "allein" zu verstärken bzw. um die Ganztonlinie strebend weiterzuführen.


Ich hatte vor meiner Aufnahme keine von anderen Sängern gehört und war ziemlich konsterniert, wie und wann da geatmet wird und was für seltsame Manöver mit dem Atem vollführt werden. Vor allem den verzögernden und dann auch noch geräuschhaften Atem vor "erhellt" (mit rollendem "r"), wie es auf mehreren Aufnahmen zu hören ist, finde ich, schlicht gesagt, musikalisch und sängerisch unmöglich. Bei manchen klingt "Glanzallein" wie ein Wort, weil sie vor dem anlautenden Vokal nicht absetzen, wie es im Deutschen klingen sollte, während Prey hinter Glanz einatmet, dann aber den Vokal aspiriert, also  h−allein" singt. Bei Gedda hört man auch "h−erhellt" und er muss in seinem langsamen Tempo dreimal atmen, vor dem "erhellt" wie andere auch deshalb, um genügend Kraft zu haben für die Steigerung ins Forte hinein und für das sängerisch sehr anspruchsvolle Decrescendo in der Wiederholung. J. Baker ist die einzige, die nur einmal und leicht hörbar hinter "Augenzelt" einatmet.


Bei allen kritischen Anmerkungen ändert das nichts daran, dass mir manches bei den anderen Sängern sehr imponiert: die sängerische Kraft ins Forte und das zarte Decrescendo bei Terfel, das schwebende "erhellt" bei Dieskau, die pure Brillanz bei Gedda und die Klarheit und Leichtigkeit in der Höhe bei den Frauenstimmen. Nach zwei Jahren könnte ich mir bei meiner Aufnahme auch noch mehr Glanz im Forte vorstellen und mehr Leichtigkeit im Abschweller.


Direkter Vergleich

In einer gesonderten PDF-Datei habe ich jeweils die Bilder vom 1., 2. und 3. Teil direkt hintereinander zusammengestellt, damit man sie besser vom abgebildeten Spektrum her vergleichen kann, und zwar von Dieskau, Terfel, Gedda, Baker, Price und von mir. Durch Vergrößern oder Verkleinern der Bilder kann man sich so vielleicht im Vergleich ein genaueres Bild machen.



© Johannes Quistorp 2016