Entfaltung der Stimme – Singen mit Leib und Seele

Zum Nachsinnen

Anregendes zum Nachsinnen

Gedanken oder kleine Texte, die mir begegnet sind und die ich gerne weiterreichen möchte. Sie können anregen und einstimmen, nachzusinnen über die Welt der Musik und der Klänge, über das Singen und die menschliche Stimme, über die Wahrnehmung und das Hören, über innere Welten und die öffentliche Welt, über Erfahrung, Lernen und Entwicklung.


Ich suche nicht - ich finde     Pablo Picasso

Suchen - das ist Ausgehen von alten Beständen

und ein Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen.

Finden - das ist das völlig Neue!

Das Neue auch in der Bewegung.

Alle Wege sind offen, und was gefunden wird, ist unbekannt.

Es ist ein Wagnis - ein heiliges Abenteuer!


Die Ungewissheit solcher Wagnisse können eigentlich nur jene auf sich nehmen,

die sich im Ungeborgenen geborgen wissen,

die in die Ungewissheit, in die Führerlosigkeit geführt werden,

die sich im Dunkeln einem unsichtbaren Stern überlassen,

die sich vom Ziel ziehen lassen und nicht

- menschlich beschränkt und eingeengt - das Ziel bestimmen.


Dieses Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen:

das ist das Wesenhafte des modernen Menschen,

der in aller Angst des Loslassens

doch die Gnade des Gehaltenseins

im Offenwerden neuer Möglichkeiten erfährt.


"Suchen" - Einen Ton, eine Tonhöhe, einen Klang, "meine" Stimme, den "eigentlichen" Klang meiner Stimme, ein Stimmideal
"die alten Bestände" - meine Ideale von einer schönen Stimme; meine Vorstellung von richtig, gut und schön; meine Hörgewohnheiten; wie ich mir wünsche, dass andere Menschen mich hören
"Finden-Wollen von bereits Bekanntem im Neuen" - das ist das, was mir an meinen Prägungen unbewusst ist, auch meine mir unbewussten Ideal-Vorstellungen; oder meine unbewusste Vorstellung, wie ich auf keinen Fall klingen will
"was gefunden wird, ist unbekannt" - die Unsicherheit, wenn etwas Unbekanntes, noch nicht Gehörtes, noch nicht Definiertes im Klang auftaucht; die Überraschung, dass so etwas im Klang erscheint; die Verwunderung, dass das auch im Leben eines Erwachsenen noch möglich ist (das ist das "Verlernen")
"Führerlosigkeit" - ich brauche, um die Stimme zu entwickeln, einen Lehrer, allerdings nicht einen, der mir sagt, wo es lang geht, sondern einen, der mich begleitet und unterstützt, der mich "gezielt" in die "Ungewissheit", in das "Ungeborgene" hineinführt. Auch der Lehrer lässt sich ziehen vom Ziel der Stimm- und Klangentfaltung. Die Führung übernimmt der Klang.
"Offensein für jede neue Erkenntnis im Außen und Innen" - nach innen spüren und hören; loslassen der außen-definierten Muster. Der Lehrer spiegelt, dass das im Innen Gehörte und Gespürte auch im Außen wahrnehmbar ist und auch im Außen mit dem Innen übereinstimmt und so okay ist.
"Offenwerden für neue Möglichkeiten" und Entdecken der ganzen Vielfalt der Möglichkeiten zu singen, zu tönen und zu klingen, das ist es, was ich meinen Schülern gern ermöglichen möchte.


Girlande

Anfängerbewusstsein


Fange niemals an aufzuhören,
höre niemals auf anzufangen.Michael Reimann (Musiker)


Das Lernen hört nie auf und hat immer schon angefangen. Im Zen wird vom "Anfängerbewusstsein" gesprochen: Alles Tun und Wahrnehmen geschieht mit dem Bewusstsein, es sei das erste Mal, immer wieder.


Girlande

Erfahrungsorientiertes Lernen


Die Erfahrung, die du suchst, ist in dem Vorgang enthalten, in dem du sie gewinnst. Wenn Du etwas hast, so gib es auf. Es zu gewinnen, nicht es zu haben, ist, was du willst.F.M. Alexander


Das ist erfahrungsorientiertes Lernen, eben keine Optimierung und Perfektionierung von Techniken und Fertigkeiten, die man dann beherrscht und unter Kontrolle hat.


Girlande

Innenraum und Außenraum


Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.Rainer Maria Rilke


Innenraum und Außenraum, für den Singenden und für den Hörenden: Im Hören einer Stimme bin ich in der Innenwelt des Singenden und meine Töne als Singender durchdringen meine Innenwelt und dringen in die Innenwelten der Hörenden. Ob ich will oder nicht will, ob sie wollen oder nicht wollen - das sind die "stillen Vögel". Klangwelten und Hörwelten sind immer Innenwelten und Außenwelten - "ein Raum". Als Singender und als Hörender ist der Klang in mir und ich bin im Klang.


Girlande

Singen und Hören


Ein Vogel singt im Walde
Es ist der Tag aller Tage
Und niemand ist daHaiku


Eine (schon ältere) philosophische Frage: Wenn niemand da ist, der hört, ist dann überhaupt etwas zu hören?
Ist ein "Jemand" mit all seinen tief eingeprägten Vorstellungen und Wahrnehmungsmustern nicht an solch einem Tag völlig fehl am Platze?
Warum singt der Vogel, wenn niemand da ist und ihm zuhört?
Was sind das für Klange, Töne, Schallwellen, Frequenzen, die in der Luft Schwingungsmuster bilden, die aber von keinen Ohren wahrgenommen und von keinem Gehirn analysiert und als bestimmte Hörbilder interpretiert werden?
Was hört eigentlich der Vogel von seinem eigenen Gesang?


Girlande

Singen - wozu?


Lebenskunst ist es,
wenn ihr arbeitet,
als würdet ihr keine Geld brauchen,
liebt,
als hätte euch noch niemand verletzt,
tanzt,
als würde keiner hinschauen,
singt,
als würde keiner zuhören,
lebt,
als wäre das Paradies auf Erden zu finden.aus Indien


"Singen, als würde (!) keiner zuhören" - wie der Vogel im Wald in dem Haiku oder wie "Der Sänger" bei Goethe, für den das Lied, das aus der Kehle dringt, genügend Lohn ist. Wie singen wir und/oder wie leben wir, wenn wir singen, damit uns endlich jemand mal zuhört; wenn wir singen, um die Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen, die wir anders von anderen nicht bekommen; wenn wir nur singen, wenn uns jemand zuhört, oder nur dann, wenn uns niemand hören kann.


Girlande

Singen für Liebe, Anerkennung und Wertschätzung?


Wenn ich ein Gebet hätte, wäre es dies:
'Lieber Gott, lass mich nicht verlangen
nach Liebe, Anerkennung und Wertschätzung durch andere. Amen'Byron Katie ("Lieben, was ist")


Anerkennung - Singe ich richtig (Tonhöhe) = Bin ich okay?
Wertschätzung - Was singe ich (Vokal/Text/Musik) = Werde ich verstanden? Finde ich Verständnis?
Liebe - Wie singe ich (schön, angenehm) = Werde ich geliebt?


Girlande

Freier Wille?


Der Mensch kann zwar tun, was er will,
aber er kann nicht wollen, was er will.Schopenhauer


Ich will einen Ton treffen; ich will einen Ton halten können; ich will schön singen oder wenigstens besser singen können; ich will eine klangvolle Stimme haben oder zumindest eine etwas vollere; ich will nicht, dass andere meine Ängste und Unsicherheiten hören usw. usf. Wer kennt nicht dieses Wollen und die Bemühungen, es umzusetzen. Da stehen wir oft hilflos da, und es ist bestenfalls unser Wollen zu hören.
Da der Kehlkopf nicht über das Großhirn ausgesteuert wird, laufen alle Optimierungsstrategien für das "Stimmorgan" ins Leere und alles Wollen und Bemühen erschöpft sich in Manipulationen, Kompensationen und Ersatzhandlungen.
(Siehe auch der Artikel "Kontrolle des Kehlkopfs" auf der Seite "Funktionskreis Stimme")


Girlande

Sehen - Hören


Nicht sehen können, trennt von den Dingen,
nicht hören können von den Menschen.Kant


Ich höre die Stimme eines mir unbekannten Menschen am Telefon und ganz unmittelbar kann ich Wohlwollen oder Distanz gegenüber ihm fühlen. Oder ich höre am Telefon nach langer Zeit wieder die Stimme eines vertrauten Menschen und kann nicht darauf schauen, wie er sich jetzt kleidet, ob er graue Haare und mehr Falten bekommen hat, doch im Hören der Stimme sind sowohl eine Unmenge Erinnerungen sofort präsent wie auch ganz plastische Eindrücke von seinem gegenwärtigen Befinden.


Girlande

Musik und Mathematik


Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet.Leibniz


In einem Dur-Dreiklang (z.B. c-e-g) bildet sich ein mathematisches Verhältnis von Obertönen ab (4 : 5 : 6) - das erleben wir als rein, stimmig, klar, hell, aufmunternd usw.
In einem Moll-Dreiklang (c-es-g) reibt sich die Moll-Terz "es" mit dem "e" der Dur-Terz als Oberton des Grundtons - das empfinden wir als nicht so "durus" (hart), sondern eher als "molle", weich und etwas wehmütig, anrührend usw.
Eine Quinte (das Verhältnis 2 : 3) klingt für uns im Zusammenklang offen und leer, eine Quarte (3 : 4) klingt dichter, kompakter; in einer Intervallfolge öffnet eine Quinte in einen weiten Raum, während eine Quarte in die aktive Bewegung drängt.
(Schwingt ein Ton mit 200 Hertz, dann schwingt die sogenannte "reine" Quinte dazu im Verhältnis von 3 : 2, also mit 3oo Hz, und die Quarte zu der Quinte im Verhältnis 4 : 3, also mit 400 Hz, der Oktave zu dem Ton mit 200 Hz, also im Verhältnis 2 : 1. Unser Ohr/Gehirn "rechnet" das ganz genau und registriert kleinste Abweichungen, was wir als nicht stimmig oder als besonderen Reiz empfinden können.)


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Wahrnehmungsfeld


"Happy new ears" - Neujahrswunsch des Komponisten John Cage an seine Freunde


Das wünsche ich auch manchmal meinen Schülern, wenn sie etwas neues Unbekanntes und Ungewohntes im Klang ihrer Stimme entdeckt haben, etwas, was jenseits unser Hörerfahrungen und Hörgewohnheiten liegt, für das wir oft erst mal gar keine Namen haben.


("Cage hat durch seine radikal-revolutionären Ideen und Kompositionen die Grenzen des überkommenen Musikbegriffs erweitert. Er erschütterte Hörgewohnheiten, sprengte den traditionellen Werkbegriff und trug entscheidend zur Emanzipation des Geräuschs und der Stille - als Abwesenheit bewußt geschaffener Klänge - bei." Riemann-Musiklexikon)


Girlande

© Johannes Quistorp