Franz Schubert: Winterreise

Ein Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller


Schuberts Winterreise - In der Tonartenfolge der Urtextausgabe für Tiefe Stimme

In Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ verläßt ein junger Mann, zurückgewiesen von einem geliebten Mädchen, die Stadt, in die er „fremd eingezogen“ ist, und wandert hinaus in Schnee und Dunkelheit. Während er so hinauszieht in die leere Landschaft, geht eine Kaskade von Gefühlen durch ihn hindurch - Verlust, Schmerz, Zorn, das Erlebnis der Einsamkeit, durchbrochen von flüchtigen Momenten der Hoffnung.

„Mit einem Herzen voll unendlicher Liebe für die, welche sie verschmähten, wanderte ich in die ferne Gegend. Lieder sang ich nun lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe.“ Franz Schubert in „Mein Traum“


Die Texte der Lieder und Bilder der Sängerin Lotte Lehmann zu den einzelnen Liedern finden Sie hier: Winterreise Text und Bilder.


Alle 24 Lieder in Einzelaufnahmen finden Sie unten auf dieser Seite. Dazu gibt es dort einen kurzen Text zur Entstehung und zum Inhalt der Winterreise und einführende Erläuterungen zu den einzelnen Lieder


Gesamtaufnahme auf Youtube:

„Die Winterreise“ in der Tonartenfolge der Urtextausgabe für Tiefe Stimme

Johannes Quistorp - Bassbariton, Ryuzo Seko - Piano

Aufnahmedatum 2018 (mit ZOOM Handyrecorder H4, 1 Mikrofon)


Einige persönliche Anmerkungen zu dieser Aufnahme der „Winterreise“

Eine Besonderheit dieser Aufnahme ist, dass ich die „Winterreise“ in der Urtextfassung (Bärenreiter) singe, also in der Folge der Tonarten, wie sie Schubert als Zyklus von 24 Liedern in zwei Teilen komponiert und angeordnet hat. Schubert hat sie für Tenor geschrieben, ich singe sie in der transponierten Fassung für Tiefe Stimme, d.h. alle Lieder eine Große Terz tiefer als in der Originalausgabe. Da alle Lieder zusammen einen sehr großen Stimmumfang von etwa zwei Oktaven haben (bei mir vom Großen Fis bis f1), werden üblicherweise (Peters-Ausgabe) einzelne Lieder höher oder tiefer transponiert, um die entsprechenden Tiefen oder Höhen leichter zu bewältigen. Dadurch gehen allerdings wesentliche Elemente der Komposition verloren. So klingt die Nr.4 „Erstarrung“ aus in einem dunkel düsteren Klaviernachspiel in gis-moll, doch dann taucht im folgenden „Lindenbaum“ aus dem Rauschen der Blätter ein lichtes helles C-Dur auf, eine wundersame musikalische Rückung in einen „süßen Traum“.

Auf Youtube gibt es (2019) keine Aufnahme in der originalen Tonartenfolge von einem Bariton oder Bassbariton. Nur die Tenöre Ian Bostridge und Jonas Kaufmann singen es nach dem Original.) Bei der sängerischen und musikalischen Gestaltung der Lieder war es mein Bestreben, jedes Lied mit einer jeweils eigenen „innigen Empfindung“ und einer entsprechenden Intensität zu singen, so wie ich es musikalisch und sängerisch in der Gesangsstimme und in den harmonischen Verläufen in der Begleitung herauslesen und heraushören kann, also die Musik mit meiner Stimme zum Klingen zu bringen, wie es in den Noten steht und wie ich sie verstehen kann. Zugleich lag es mir sehr am Herzen, den Text nicht nur in seinem Inhalt und seiner Bedeutung, wie Schubert es komponiert hat, in meinem Singen hörbar verständlich zu machen, sondern auch die sinnlichen Empfindungsqualitäten und die Sinnhaftigkeit all der Gedichte und auch jedes einzelnen Wortes für die Ohren der Zuhörenden „in innigster Empfindung“ (con molto sentimento) erlebbar werden zu lassen.

Bei der Erarbeitung der Lieder habe ich in der Musik von Schubert einige Entdeckungen gemacht, die ich so noch nicht in anderen Aufnahmen gehört habe. So wendet sich die Musik immer wieder aus starken Verdichtungen oder dunklem Moll in ein lösendes Dur, selbst in ganz traurigen und düsteren Momenten: Im „Wirtshaus“ bei „...bin tödlich schwer verletzt.“ aus einem doppelten dissonanten Vorhalt in den einfachsten dreistimmigen Dur-Dreiklang am Ende bei „verletzt“; oder in den „Nebensonnen“ bei „...nun sind hinab die besten zwei.“ singt die Singstimme einen Moll-Dreiklang abwärts, aber auf dem Grundton erklingt im Klavier ein Dur-Dreiklang in einer entfernten anderen Tonart. Beides habe ich in meinem Singen versucht hörbar zu machen.


Meine grundlegende sängerische Intention ist, all das über den Stimmklang und seine Schwingungsenergien hörbar werden zu lassen, also die Stimme als Medium der Musik und des Notentextes zum Klingen zu bringen, und nicht mit dieser oder jener Art von „Interpretation“ und Gestaltung mein Singen bedeutungsvoll aufzuladen, so dass im besten Fall meine „schöne Stimme“, mein sängerisches Vermögen und meine gelungene Darbietung zu vernehmen sind, aber wenig von der Musik zu hören und zu verstehen ist und der Gesang wenig Möglichkeiten gibt, den Klang der Musik im Klang der Stimme mitzuerleben und mitzuempfinden.

Ich bin ganz glücklich darüber, dass ich vieles von meinen Intentionen in diesen Liedern hören und finden kann, in dieser unvorstellbar tiefen und überwältigenen Musik, vor allem in den Liedern, die mir sehr am Herzen liegen und meine Seele zum Schwingen bringen wie „Wasserflut“, „Frühlingstraum“, „Der Wegweiser“, „Das Wirtshaus“, „Die Nebensonnen“ und „Der Leiermann“


Schuberts Winterreise - Einführende Erläuterungen zu den einzelnen Liedern

Zur Entstehung der Winterreise

Die Texte stammen von Wilhelm Müller, einem Dichter, der an den Befreiungskriegen gegen Napoleon teilnahm. Schubert entnahm die zwölf Gedichte der „Ersten Abteilung“ der Literaturzeitschrift Urania, die unter dem repressiven System Metternichs verboten war. Schubert besorgte sie sich illegal. Die ersten zwölf Gedichte vertonte Schubert im Februar 1827, ein Jahr vor seinem Tod. Im Spätsommer des Jahres stieß er auf die anderen zwölf Gedichte von Wilhelm Müller, die er im Oktober komponierte. Die Erstausgabe erschien nach seinem Tod im Dezember 1828. Die Tonarten in fünf Liedern der Erstausgabe (6, 10, 12, 22, 24) weichen vom Original ab, sie wurden tiefer transponiert. Die Änderungen der Tempobezeichnungen in der Originalausgabe stammen von Schubert. „Originalausgabe“ ist ein Druck, den Schubert autorisiert hat.)


Zum Inhalt

„Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus“ - mit diesen Versen beginnt die „Winterreise“, einer der bekanntesten Liederzyklen der Romantik, mit dem Schubert eine Darstellung des existentiellen Schmerzes des Menschen gelang. Im Verlauf des Zyklus wird der Hörer immer mehr zum Begleiter des Wanderers, der zentralen Figur der Winterreise. Dieser zieht nach einem Liebeserlebnis aus eigener Entscheidung ohne Ziel und Hoffnung hinaus in die Winternacht. Das Werk Müllers kann auch als politische Dichtung begriffen werden, in der er seine von den Fürsten enttäuschte und verratene Vaterlandsliebe (d.h. die Hoffnung auf Freiheit, Liberalismus und Nationalstaat) thematisiert.


Innerhalb des Zyklus lässt sich kein durchgehender Handlungsstrang erkennen. Es handelt sich eher um einzelne Eindrücke eines jungen Wanderers. Auf den 24 Stationen seines passionsgleichen Weges ist er zunächst starken Stimmungsgegensätzen von überschwänglicher Freude bis hin zu hoffnungsloser Verzweiflung ausgesetzt - von Schubert durch den häufigen Wechsel des Tongeschlechts verdeutlicht -, bevor sich allmählich eine einheitliche, jedoch vielfältig schattierte, düstere Stimmung durchsetzt.


Im Ausklang des Zyklus trifft der Wanderer auf den Leiermann, der frierend seine Leier dreht, aber von niemandem gehört wird. Die Melodie erstarrt hier zur banalen Formel, das musikalische Leben hat sich verflüchtigt und das Gefühl scheint aus einem verloschenen Herzen entwichen zu sein - und doch gelingt Schubert in dieser Szenerie unendlicher Hoffnungslosigkeit hier eines seiner anrührendsten und gleichzeitig schlichtesten Lieder.


Mit der Frage „Willst zu meinen Liedern deine Leier dreh'n?“ endet die „Winterreise“. Manche sehen in diesem Lied die Kunst als letzte Zuflucht dargestellt, andererseits wird der Leiermann, dem der Wanderer sich anschließen will, auch als Tod gedeutet. Eine dritte Deutung sieht in der „ewigen Leier“ den Ausdruck der Qual eines hoffnungslosen, aber immer fortdauernden Lebens.

(zitiert aus „Winterreise“ https://de.wikipedia.org/wiki/Winterreise)


Die Erläuterungen zu den einzelnen Liedern sind dem Text von Walther Dürr - „Lieder„ in „Reclams Musikführer - Franz Schubert“ (1991) entnommen, den es noch antiquarisch gibt. Auslassungen im Text sind nicht gekennzeichnet. Teilweise gibt es Ergänzungen aus dem Buch „Arnold Feil - Franz Schubert“ (1975).

Die Musikwissenschaftler Dürr und Feil sind die Herausgeber der Urtext-Ausgabe der „Winterreise“ im Bärenreiter-Verlag.

Die von Dürr angegebenen Charakterisierungen der Tonarten entsprechen dem allgemeinen Verständnis aus der Zeit Schuberts.


Die jeweils erste Angabe der Tonart bezieht sich auf die von mir gesungene Urtext-Ausgabe für Tiefe Stimme in Bassbaritonlage - eine Große Terz tiefer. Die Tonartenangaben in den Erläuterungen beziehen sich auf die Originalausgabe, also die Tenorlage.

Einen zusammenhängenden Text dieser Einführungen zu den 24 Liedern mit erweiterten Zitaten aus dem Buch von Arnold Feil finden Sie in der PDF-Datei: Schuberts Winterreise - Einführende Erläuterungen zu den einzelnen Liedern


Einleitend schreibt Walther Dürr zur "Winterreise":

Dem Zyklus liegt kein gerichteter Handlungsablauf zugrunde; der Wanderer bewegt sich im Kreis, oder besser in einer Art Spirale. Der Beginn ist eindeutig festgelegt mit dem Verlassen der Stadt und der ungetreuen Geliebten (1. „Gute Nacht“); das Ende ist zunächst unklar markiert durch „Einsamkeit“ (12.), dann präzise durch „Der Leiermann“ (24.). Dazwischen aber findet man immer wieder „Rückblicke“, Entsprechungen, Wiederholungen.


Die scheinbar locker gefügte Liederfolge erweist sich bei näherem Hinsehen als in sich fest strukturiert. Es geht dabei um den Weg von außen nach innen, von der realen Welt in eine ideale. Es ist im ersten Teil der Weg „in weite Fernen, wo die Ahndung des Unendlichen im dämmernden Rosenlicht sehnsüchtig aufgeht“, ein Weg, auf dem dennoch der „Schmerz beschränkter Gegenwart, der die Grenze des menschlichen Seins umstellt“ immer fühlbar bleibt (Zitat aus einer Rezension von 1828). Der zweite Teil setzt neu an, geht mit dem ersten zunächst parallel, führt dann aber weiter, und zwar keineswegs in eine rosige Unendlichkeit, in die romantische Utopie: der Wanderer der „Winterreise“ erkennt, dass er das „Wirtshaus“ (21.) nicht erreicht, dass er „die Grenze des menschlichen Seins“ nicht zu überschreiten vermag; der Weg nach innen führt ans Ende.


Schuberts Winterreise - eine musikalisch-sängerische Klangerkundung

„Singen, was in den Noten steht“ : das Innenleben der Musik im Klang der Stimme hörbar werden lassen


Dieser treffliche Satz stammt von Nicolai Gedda, dem von mir sehr geschätzten Tenor. Im Unterricht hat er ihn mal zu einem Schüler gesagt: „Mach nichts mit der Stimme. Sing, was in den Noten steht.“ Ich verstehe darunter, nicht mit stimmlichen Manövern etwas ausdrücken und gestalten zu wollen, die Musik (bzw. nur den Text) mit kunstvollem Gesang zu interpretieren, sondern sich nicht nur an den Notentext zu halten (das sollte sich sowieso verstehen), sondern zu singen was in den Noten steht, also auch das, was zwischen und hinter den Noten steht, eben das, was „das Innenleben der Musik“ genannt werden kann, im Klang der Stimme hörbar, spürbar und lebendig werden zu lassen.


Analysen einzelner Lieder:

1. Gute Nacht

23. Die Nebensonnen


1. Gute Nacht - „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus...“

b-moll - Original in d-moll (Tonart der Schwermut und Resignation)
Tempo: Mäßig (Autograph: Mäßig, in gehender Bewegung)

Das erste Lied des Zyklus berichtet real vom Abschied, davon, dass man den Sänger gewaltsam vertreiben würde, wollte er noch länger bleiben. Er verläßt die Stadt, verläßt „fein Liebchen“, das - wie man im folgenden Lied erfährt - nun eine bessere Partie gefunden hat. Als das Lied einsetzt, ist der Wanderer bereits unterwegs.
Wandern ist nicht einfach nur Bewegung, es ist auch immer Selbstreflexion, Voraussetzung für den Weg nach innen. So folgen dann in dem ganzen Zyklus auf Lieder des Gehens und Schreitens immer wieder solche der „Rast“ und des „Rückblicks“

2. Die Wetterfahne - „Der Wind spielt mit der Wetterfahne auf meines schönen Liebchens Haus...“

f-moll - Original in a-moll (Moll-Domnante* zu d-moll), Tempo: Ziemlich geschwind (Autograph: Ziemlich geschwind, unruhig) („Ziemlich geschwind“ heißt bei Schubert „nicht zu geschwind“, also angemessen geschwind )

*Die Dominante ist die Tonart eine Quinte über der Hauptonart, normalerweise eine Dur-Tonart.

Das zweite Lied ist ein Rückblick auf des „Liebchens Haus“. Die Bewegung der Wanderung scheint unterbrochen, reale und erinnerte Bilder mischen sich. Schubert setzt das Lied als Szene. Im Unisono-Vorspiel im Klavier und in der Unisono-Begleitung der Singstimme ist zu hören, wie der Wind mit der Wetterfahne spielt. Leise Passagen („Der Wind spielt drinnen mit den Herzen...“) wechseln sich ab mit lauten („Was fragen Sie nach meinen Schmerzen...“) - „leise“ und „laut“ ist von Schubert in der Singstimme notiert, was nur in Ausnahmefällen vorkommt.

3. Gefrorne Tränen - „Gefrorne Tropfen fallen von meinen Wangen ab ...“

cis-moll - Original in f-moll, Tempo: Nicht zu langsam (2 Halbe-Takt)

*Eine Mediante ist eine Terzverwandtschaft zwischen zwei Tonarten. So sind c-moll (c-es-g) und Es-Dur (es-g-b) über die Terz „es“ miteinander verwandt. Der Wechsel in eine Mediante kann wie eine Entrückung wirken oder in diesem Lied wie ein Absturz. Siehe auch der Wechsel von Nr. 4 in gis-moll zu Nr. 5 in C-Dur - eine Entrückung in eine Traumwelt.

Dann folgt in der Tonartenanordnung ein Bruch. Das dritte Lied steht in f-moll, der Moll-Untermediante (*) zu a-moll; das ist ein Ton mit leiterfremder Terz, gleichsam ein Absturz. Jetzt geht es nicht mehr um reale Bilder: Das Lied spricht vom Gegensatz innerer Leidenschaft zu einer in Eis ertarrten Außenwelt, die dennoch abgehoben ist von jener Welt, aus der der Wanderer kommt. Es ist eine Welt, in der Tränen gefrieren, in der Leiden nach außen projiziert werden und dies Außen sich dann ihrer bemächtigt. Der Sänger geht durch diese Welt nicht mehr gleichmäßig, wie im ersten Lied, sondern unsicher schreitend, wie verstört von den synkopisch fallenden „gefrornen Tropfen“. Erst dann verfestigt sich sein Schritt, als er nicht mehr auf das Eis um sich, sondern ganz nach innen blickt, auf die „Quelle“ seiner Tränen.

4. Erstarrung - „Ich such im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur ...“

gis-moll - Original in c-moll (Moll-Dominante zu f-moll), Tempo: Ziemlich schnell (Autograph: Nicht zu geschwind)

Ein neuer Impetus, eine gleichsam „eilende“ Bewegung, die dennoch auch „Erstarrung“ ist. Wie eine Kruste legt sich Erstarrung über die leidenschaftliche Bewegung. Der nach innen gerichtete Blick des Wanderers sucht nach „ihr“, nach „ihrer Tritte Spur“, doch vergebens. Er fürchtet, seine Schmerzen könnten schweigen, sein erstarrtes Herz und „ihr Bild© darin schmelzen und zerinnen.

Arnold Feil: Mit einer Leidenschaft ohnegleichen zieht Erstarrung in einem Zug an uns vorüber, als käme es aus einem Atem. Kaum ein Lied des Zyklus ist von ähnlicher leidenschaftlicher Intensität.

5. Der Lindenbaum - „Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum ...“

C-Dur - Original in E-Dur, Tempo: Mäßig (Autograph: Mäßig langsam)

* Ein Menuett ist ein ruhig bewegter Tanz und eine Sarabande wie in Nr. 6 ein ausgesprochen langsamer Tanz mit dem Schwerpunkt auf der unbetonten Zwei des Taktes − beide im ¾-Takt

Auf die erste Gruppe von Liedern folgt eine zweite, von drei Liedern, jeweils in E-Dur oder e-moll. Auf den Abstieg in die Moll-Untermediante (a-moll - f-moll) folgt so nun der Aufstieg in die Dur-Obermediante (c-moll - E-Dur), ein Aufstieg der bei Schubert meist Entrückung ist und - im konkreten Fall von E-Dur - Ekstase. Es ist die Welt des Traums - im Schatten des Lindenbaums, eines Traums freilich, der von der Realität bedroht ist (Wechsel nach e-moll zu „Ich mußt auch heute wandern...“ und durch einen überraschenden Absturz in einen C-Dur-Akkord zu „Die kalten Winde bliesen“). Entrückung bedeutet abermals Innehalten: Der Wanderer geht nicht mehr, die Melodielinie orientiert sich am Modell eines langsamen Menuetts (*) : Der Wanderer blickt zurück in eine Zeit, als der Baum Blätter trug, Schatten spendete dem Liebenden. Langsamer ekstatischer Tanz: Das ist jedoch nicht nur Blick zurück, es birgt auch ein verführerisches Versprechen: „Du fändest Ruhe dort...“. Zum ersten Mal klingt Todessehnsucht an.

6. Wasserflut - „Manche Trän aus meinen Augen ist gefallen in den Schnee ...“

c-moll - Original e-moll (Autograph: fis-moll), Tempo: Langsam

Der Rückbklick in die Idylle ist von kurzer Dauer. Mit der „Wasserflut“ ist der Wanderer zurückgekehrt in die Welt der „gefrornen Tränen“. Das Menuett verwandelt sich in eine Sarabande; Singstimme (Tanzmelodie) und Instrument (Tanzrhythmus) verbinden sich zu gemeinsamem Tanz. Wie hypnotisiert von seinem Traum schaut der Wanderer, die Klavierfiguren der Schlußstrophe des „Lindenbaums“ aufgreifend (Triolen), in den Schnee des Winters und kann sich doch von den Frühlingsbildern nicht lösen: „Wenn die Gräser sprossen wollen, weht daher ein lauer Wind, und das Eis zerspringt in Schollen...“, wohl wissend, dass dies sein Frühling nicht mehr sein kann: mit einem schmerzlichen Ausbruch schließt jede Strophe.

7. Auf dem Flusse - „Der du so lustig rauschtest, du heller, wilder Fluss ...“

c-moll - Original e-moll, Tempo: Langsam (Autograph: Mäßig)

Der Wanderer ist wieder unterwegs: Verhaltene, vorsichtige, aber regelmäßige Schritte führen ihn auf das Eis des Flusses, in dem er sein Gegenbild erkennt: erstarrt und dennoch reißend „unter seiner Rinde“. Auch in dieses Lied ist nochmal ein Rückblick eingeblendet: „In deine Decke grab ich mit einem spitzen Stein den Namen meiner Liebsten...“ - so wie er einst in die Rinde des Lindenbaums „so manches Liebe Wort“ geschnitten hatte. Folgerichtig wendet sich dieses Lied noch einmal nach E-Dur, doch nur für eine kurze Strophe: Die reißende Strömung des Flusses treibt den Wanderer weiter.

Die Gruppe der Lieder 5 - 7 markiert im Ganzen eine Art Pause auf seinem Weg. Was in der ersten Liedgruppe (1 - 4) angedeutet war, ist hier erneut ausgeführt, doch sind Außen und Innen, Realität und Traum, jetzt seltsam ineinander verschränkt.

8. Rückblick - „Es brennt mir unter beiden Sohlen tret ich auch schon auf Eis und Schnee ...“

es-moll - Original g-moll (Subdominante (*) zu Gute Nacht), Tempo: Nicht zu geschwind

* Die Subdominante ist die Tonart, die eine Quinte unter der Hauptonart liegt.

Eine dritte Gruppe von Liedern (8 - 12) führt den Wanderer schließlich zum „Ziel“. „Rückblick“ erinnert noch einmal an die „Stadt der Unbeständigkeit“. Es ist jedoch eine neue Art Rückblick; kein Innehalten - der Wanderer erscheint vielmehr wie gehetzt: Er nimmt immer neue Anläufe, wie zum Sprung, stolpert, hastet weiter: „Ich möcht nicht wieder Atem holen, bis ich nicht mehr die Türme seh“ - und schaut dann doch zurück (in einem ausgeglichenen, ruhig lyrischen Mittelteil in Es-Dur).

Arnold Feil: „In Rückblick“ ist die „gehende Bewegung“ ein hastig stolperndes Fliehen verfremdet in panische Flucht. Dieser Vorstellung entgegen wirkt freilich die letzte Strophe, die enthüllt, dass der Wanderer ja doch eigentlich gar nicht fliehen will; er möchte zurücksehen, zurückkehren, einmal wieder, noch einmal „vor ihrem Hause stille stehn“.

9. Irrlicht - „In die tiefsten Felsengründe lockte mich ein Irrlicht hin ...“

g-moll - Original h-moll, Tempo: Langsam

Mit dem neuen Lied „Irrlicht“ folgt h-moll auf g-moll, vielfach bei Schubert ein Hinweis auf nun schon deutlich ausgesprochene Todeserwartung („jedes Leiden“, heißt es am Ende des Liedes, findet „auch sein Grab“). Die zuvor hastende Bewegung verwandelt sich wieder in Tanz, einen Tanz, der an den sarabandenartigen Rhythmus der „Wasserflut“ anzuschließen scheint. Das Irrlicht hat die Führung übernommen; so erscheint der Tanz vielfach gebrochen, wie ziellos, nicht in festen Figuren gefügt, von unerwarteten Pausen unterbrochen. Und während in „Wasserflut“ Singstimme (Tanzmelodie) und Instrument (Tanzrhythmus) sich zu gemeinsamem Tanz verbinden, ist dieser hier zunächst dem Instrument allein vorbehalten; die Singstimme fügt sich ein („In die tiefsten Felsengründe lockte mich ein Irrlicht hin“), rezitiert, bildet Gegenmelodien („Bin gewohnt das irre Gehen“). Erst am Ende des Liedes, als der Wanderer auch im Irregehen sein Ziel erkennt, übernimmt die Singstimme in leidenschaftlichem Ausbruch wieder die Führung („jeder Strom wird's Meer gewinnen“ - Rückung nach C-Dur, „jedes Leiden auch sein Grab“ - Modulation zurück nach h-moll)

10. Rast - „Nun merk ich erst wie müd ich bin, da ich zur Ruh mich lege ...“

as-moll - Original c-moll (Autograph: d-moll), Tempo: Mäßig

Abermals verändert sich die Bewegung; sie ist nun wieder zielstrebig, drängend. Von neuem geht der Wanderer einem „Obdach“ entgegen. Der Text spricht davon, dass er den Rastplatz wohl gefunden habe, „in eines Köhlers engem Haus“ - „doch meine Glieder ruhn nicht aus“. Die Musik bestätigt das: Von einem Ende der Wanderung kann keine Rede sein. Der Höer mag zunächst im Zweifel bleiben, was nun real, was vorgestellt ist, die Ruhe oder die Wanderung; Realität und Traum schieben sich ineinander. Im Zusammenklang von Text und musikalischem Kommentar wird das gemeinte deutlich: Das Lied steht in c-moll - die Realität des Wanderns gilt auch während der „Rast“

Arnold Feil: Zum ersten Mal ruht der Wanderer. Und doch ist Rast ein „Geh-Lied“. Willenlos geht „es“ in dem Menschen weiter, der da singt - der Instrumentalpart zieht unaufhaltsam dahin, und der Singstimme fehlt jegliche Kraft, auf ihn einzuwirken, ihn zu gliedern, ihn zu bestimmen, sei ihr Ambitus melodisch und dynamisch noch so groß, deklamiere sie noch so beredt, wie etwa das „der Rücken fühlte keine Last“, oder auch noch so ausdrucksvoll, wie das „der Sturm half fort mich wehen“. Unerbittlich geht der Satz weiter - unabwendbar wie das Schicksal. Die musikalische Realität steht gegen den Willen des Wanderers.

11. Frühlingstraum - „Ich träumte von bunten Blumen, so wie sie wohl blühen im Mai ...“

F-Dur/f-moll - Original A-Dur/a-moll, Tempo: Etwas bewegt (Autograph: Etwas geschwind)


* „Daktylisch“ ist ein Versrhythmus von schwer-leicht-leicht, −− v v.

Nach der Rast erfolgt ein neuer Bruch. Schubert führt uns aus c-moll nach A-Dur, in den Frühlingstraum. Wieder verschlingen sich Illusion und Realität, A-Dur und a-moll (die Verbindung der beiden Tonarten bezeichnet bei Schubert wohl nicht selten den Gegensatz von Utopie und Wirklichkeit), volksliedhafte Einfachheit zu Beginn jeder Strophe, schrille Dissonanzen im Mittelteil. Im Schlußabschnitt klingt zeitweise der daktylische* Schreitrhythmus an, hier wohl die Aufhebung der Widersprüche andeutend. Doch weiß man diesmal nicht, ob die Figur aus dem Traum heraus oder - wie der Text suggerieren möchte: „Die Augen schließ ich wieder...“ - in ihn hineinführen soll.

Arnold Feil: Das Lied besteht aus drei musikalisch nicht zusammenhängenden Teilen. Es ist kein „schönes Lied“. Der Frühlingstraum ist beklemmende Realität: mit der Irrealität des Traums, dann mit der Realität der Wirklichkeit (im Mittelteil mit naiven musikalischen Mitteln wiedergegeben) und schließlich, wenn der heitere Blick des Beginns, am Schluß zutiefst getrübt ist, in der Realität des Wissens, dass die Frage „Wann grünt ihr Blätter am Fenster?“ und „Wann halt ich mein Liebchen im Arm?“ keine Antwort hat. Anfang und Ende, das heißt die Klaviertakte des Vorspiels und des Endes, gilt es also „zusammenzuhören“. Im Frühlingstraum ist die Zwangsvorstellung des Gehens „weiter und immer weiter“ aufgehoben - im Traum.

12. Einsamkeit - „Wie eine trübe Wolke durch heitre Lüfte geht ...“

g-moll - Original h-moll (Autograph d-moll), Tempo: Langsam

Das letzte Lied des ersten Teils ist gleichsam die Endstation der Wanderung nach innen, der Absonderung auch von der umgebenden Natur: „Wie eine trübe Wolke durch heitre Lüfte geht, ... so zieh ich meine Straße.“ Das Lied „geht“ wieder, in gleichmäßigen Achteln wie im ersten Lied, „langsam“ zwar, aber dennoch unbeschwert, ohne lastende, „innehaltende“ Akzente und seltsam leicht. „Erstarrung“ ist das nicht mehr, keine Kruste überdeckt das „Elend“ des Wanderers, der um das Bild der Geliebten nicht mehr fürchtet, da er es gegen ein Außen nicht zu verteidigen braucht: Die „lichte Welt“ nimmt keinen Anteil mehr. Freilich: was auch die Tonarten-Ordnung der letzten vier Lieder andeutet - das Umkreisen eines durch das Irrlicht zuerst benannten Zieles (h-moll - c-moll - A-Dur - h-moll) -, der Weg nach innen und unbestimmte Todeserwartung, kann das Ende nicht sein. Müller (der Dichter) und Schubert meinten es anders; eine Verdeutlichung war nötig. Man findet sie in den später geschriebenen Gedichten, in den Liedern des zweiten Teils

13. Die Post - „Von der Straße her ein Posthorn klingt ...“

H-Dur - Original Es-Dur, Tempo: Etwas geschwind

Die ersten sieben Lieder dieses zweiten Teils sind eine Art Kommentar zum ersten. Einzelnes wird wieder aufgenommen, weitergeführt, neu beleuchtet. So spiegeln „Die Post“ und „Im Dorfe“ Aspekte von „Gute Nacht“ und „Rückblick“; der Hörer wird noch einmal zurückgewiesen auf den Ausgangspunkt der Wanderung. Noch einmal spricht „Die Post“ von jener Stadt, „wo ich ein liebes Liebchen hatt' “ - im „Rückblick“ freilich: Der Wanderer horcht auf die Straße, auf das Posthorn, dessen muntere Es-Dur-Fanfaren nicht die seinen sind, so wenig wie er im eilenden 6/8-Rhythmus der trappelnden Pferde seinen irrenden Gang erkennt.

Die Lieder 13 - 16: Über die Terz verwandte Tonarten (Mediante) verbinden die drei auf „Die Post“ (Es-Dur) folgenden Lieder mit diesem: c-moll „Der greise Kopf“ - c-moll „Die Krähe“ - Es-Dur „Letzte Hoffnung“. Auch sie sind, „Die Krähe“ ausgenommen, Lieder, in denen der Wanderer verharrt. Sie verweisen auf weitere Stationen des zurückgelegten Weges und deuten zugleich darüber hinaus: Der zweite Teil des Zyklus ist dem ersten nicht kongruent; aus gleichsam erhöhtem Stand blickt man zurück, aus der Erfahrung der Einsamkeit; so führt der Weg in die Spirale.

14. Der greise Kopf - „Der Reif hat einen weißen Schein mir übers Haar gestreuet ...“

as-moll - Original c-moll, Tempo: Etwas langsam

Der Reif, der dem Wanderer einen „weißen Schein“ übers Haar streut, erinnert an „Gefrorne Tränen“; diesmal jedoch deckt das Eis keine glühende Quelle, es deutet auf Greisenalter und Tod - und darauf, wie weit es noch ist „bis zur Bahre“. In zittrigen Linien zeichnet die Singstimme die Todeshoffnung des Sängers nach; das Instrument tritt ganz zurück, stützt diese nur in wenigen Akkorden

Arnold Feil: In der ersten und dritten Strophe tritt tatsächlich der Text zum „Gesang“ hinzu und somit entsteht der Eindruck, die Worte begleiteten nur die „instrumentale Erscheinung“, die alles schon „in sich schließt“. Die anderen Strophen widersprechen dieser Deutung. Über eine Art Rezitativ führen sie zu einem Sprechen, das in höchster musikalischer Verdichtung das instrumentale Element aufgesogen zu haben scheint. Das Unisono „Wie weit noch bis zur Bahre?“ : Die größtmögliche Reduktion der Mittel hat die stärkste Wirkung zur Folge; das Lied wirkt wie auf diese eine Zeile hin komponiert und mit dieser Zeile wie ein Wegweiser.

15. Die Krähe - „Eine Krähe war mit mir aus der Stadt gezogen ...“

as-moll - Original c-moll, Tempo: Etwas langsam

Die „Krähe“ greift den Gedanken des letzten Liedes nochmal auf -
im Totenvogel hat der Wanderer einen Begleiter gefunden. Wieder beherrscht die Singstimme das Lied - kontrapunktiert jedoch von stetigem „Geflatter“ der Sechzehntel-Triolen.

Arnold Feil: „Krähe lass mich endlich sehn Treue bis zum Grabe.“: Hier sind Frage und Aufforderung des Textes als Aufschrei des gequälten Menschen auf eine Weise zum Ausruck gebracht, dass eine Steigerung ausgeschlossen und eine Wiederholung nur dann zu ertragen ist, wenn die aufreißende Dissonanz in einer versöhnlichen Auflösung, in einen zwingenden Schluss, in einer vergewissernden Antwort aufgehoben wird. Das Nachspiel beginnt im letzten Klang der Singstimme. Über dem „Grabe“ erhebt sich - merkwürdige Metapher der Treue - musikalisch gleichsam die Vision der Krähe.

16. Letzte Hoffnung - „Hie und da ist an den Bäumen manches bunte Blatt zu sehn ...“

H-Dur - Original Es-Dur, Tempo: Nicht zu geschwind


* Phrygische Sekunde: Vom Grundton „es“ zur 2. Stufe „f“ ist es nicht wie in Es-Dur eine Große Sekunde, sondern hier wie in der phrygischen Tonart ein Halbtonschritt es-fes.


** Die selbständig geführte Klavierbegleitung ist für die Komposition unentbehrlich.

Die „Letzte Hoffnung“ lässt nochmal an den „Lindenbaum“ denken, an bunte Blätter an Bäumen, doch das Es-Dur, Tonart des gläubigen Vertrauens, nicht nur der Jagd, ist hier seltsam gebrochen. Einzelne Staccato-Töne setzen sich bereits zu Beginn zu einem verminderten Septakkord (as-ces-d-f) zusammen, der eher nach es-moll („schwärzeste Schwermut“) weist. Und selbst das Es-Dur der opernhaft anmutenden Kantilene („wein, wein auf meiner Hoffnung Grab“), mit dem das Lied schließt, wird durch die wiederholte kleine Sexte (ces) und zusätzlich die phrygische Sekunde* ()fes) in Frage gestellt.

Arnold Feil: Schuberts „Letzte Hoffnung“ belegt besonders eindrucksvoll, dass in Schuberts Satz das Accompagnement obligat (**) geführt ist, was bedeutet, dass Vokal- und Instrumentalstimme einen Satz bilden, der als Einheit konzipiert ist und nur als ganzer seine musikalische Wirkung erreicht. Die Singstimme, aus dem Satz-Ganzen herausgelöst, ergibt nicht nur keine Melodie, sie ergibt überhaupt keinen musikalischen Sinn.

Durch das Vorspiel weiß der Hörer schon, dass er sich an nichts halten kann, dass der Satz schlechthin instabil ist, dass weder Takt- noch Tonart gesichert sind. Schubert bildet eine musikalische Struktur, die die schärfsten Gegensätze birgt und den Hörer Erfahrungen machen läßt, die über die „musikalische Zeichnung“ lose an Zweigen baumelnder dürrer Blätter weit hinausreichen

Wir begreifen die Wahrheit der Metapher des Textes von den dürren Blättern und der Hoffnung, wir begreifen sie musikalisch, wir erkennen den Abgrund, der sich auftut, die Tragik, die uns überfällt - und wir dürfen dann mit dem Wanderer Angst, Schmerz und Trauer ausfließen lassen in dem Bereich, den die Musik uns Menschen auch offenhält, wir dürfen uns ausweinen mit dem Wanderer in seinem Lied: „auf unsrer Hoffnung Grab“.

17. Im Dorfe - „Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten, es schlafen die Menschen in ihren Betten ...“

B-Dur - Original D-Dur, Tempo: Etwas langsam


Dem Block dieser der Post zugeordneten Lieder entspricht ein zweiter, der mit „Im Dorfe“ beginnt. Zwischen beiden Blöcken (Es-Dur - D-Dur) weist, ein neuer Bruch, eine Halbtonrückung abwärts, darauf, dass der Wanderer wieder unterwegs ist: Das D-Dur-Lied ist wohl „Rückblick“, Erinnerung an vergangene Stationen, aber kein Lied des Verharrens mehr. „Im Dorfe“ spiegelt Aspekte von „Gute Nacht“ und „Rückblick“. Hier sieht der Wanderer nur mehr ein Zerrbild der Stadt: Die rasselnden Ketten der Hunde erinnern an das Heulen der „irren Hunde“ (Nr. 1), wenn der Fremde durch die schlafenden Gassen geht - hier freilich, wie in „Rückblick“, eher gehetzt durch die „rasselnden“ Sechzehntel-Figuren. Noch einmal erlebt er, dass er nicht zu denen gehört, die „ihr Teil genossen“ haben. Und abermals wie in „Rückblick“; spiegelt ein ausgeglichener, ruhig-lyrischer Mittelteil vergangene Idylle - diesmal aber in ironischer Distanz zu den behäbig in ihren Kissen Träumenden. Distanz zu den Schlafenden nicht nur, gerade auch zu den Träumenden; das ist neu an dem Lied: „Ich bin zu Ende mit allen Träumen, was will ich unter den Schläfern säumen?“ singt der Wanderer im Schlussteil. „Frühlingsträume“ sind kein Ausweg mehr; zu weit schon ist er seinen Weg gegangen. Schubert zeigt die Bedeutung der Stelle auch musikalisch: Er unterbricht die bis dahin ununterbrochene Bewegung in einer Art Taktwechsel, setzt einfache Akkorde anstelle der drängenden Achtel, bevor der Wanderer, die Verse wiederholend zunächst, dann im Nachspiel seinen Weg fortsetzt: D-Dur, das ist die Tonart der letzten Strophe von „Gute Nacht“, dort wie hier nicht Tonart der triumphierenden Befreiung, sondern schmerzlicher Ironie, Tonart des Abschieds.

18. Der stürmische Morgen - „Wie hat der Sturm zerrissen des Himmels graues Kleid ...“

b-moll - Original d-moll, Tempo: Ziemlich geschwind, doch kräftig


Aus dem Text von Arnold Feil: Das Lied kehrt zurück in die düstere Realität der Tonart von „Gute Nacht“. Die Entscheidung am Ende von „Im Dorfe“ („Was will ich unter den Schläfern säumen?“) ist eine Wende, sie befreit gleichsam. Nun in „Der stürmische Morgen“ hat der Wanderer wieder Kraft, er vermag neu Tritt zu fassen für seine Reise. Zum ersten Mal im Zyklus verläuft ein Lied so, dass das Tempo zu nehmen ist, wie man wandert, oder umgekehrt so, dass man wandernd seinen Schritt nach dem Lied richten kann. Obwohl der Text kein Wort vom Wandern spricht, entsteht der Eindruck, es handle sich um ein Wanderlied, glauben wir den Wanderer im „stürmischen Morgen“ grimmig versammelt, ausschreiten, sich gegen den Sturm stemmen zu sehen. Es ist das einzige Lied der Winterreise, in dem es ein durchgehaltenes Forte, sogar Fortissimo gibt. Der Wanderer hat Kraft und Mut wiedergewonnen, weil er sich im vorausgegangenen Lied „Im Dorfe“ losgerissen, weil er den Bann gebrochen, weil er sich befreit hat. Aber die Kraft wird bald niedersinken, die Füße werden nicht mehr weit tragen.

19. Täuschung - „Ein Licht tanzt freundlich vor mir her, ich folg ihm gern die Kreuz und Quer ...“

F-Dur - Original A-Dur, Tempo: Etwas geschwind


Das freundliche A-Dur der „Täuschung„ ist die Dominanttonart zum d-moll des „Stürmischen Morgens“, sie erinnert an den „Frühlingstraum“. Das „Licht“, das in einer tanzenden 6/8-Takt-Bewegung scheinbar freundlich vor dem Wanderer her tanzt ist ein Irrlicht, es täuscht den Wanderer, führt ihn nicht zu einem „warmen Haus und einer lieben Seele drin“, sondern mit den penetranten hohen und leeren Oktaven in der Oberstimme des Klaviers in die Illusion und damit ins Verderben.

20. Der Wegweiser - „Was vermeid ich denn die Wege, wo die andern Wandrer gehen ...“

es-moll - Original g-moll, Tempo: Mäßig


* Die Subdominante ist die Tonart eine Quinte unter der Tonika, der Haupttonart.

** Portatozeichen: Bindebogen über Staccatopunkten

Mit diesem Lied ist die Folge von Parallelstationen zum ersten Teil des Zyklus abgeschlossen. Die letzten fünf Lieder führen darüber hinaus. Die Tonart des „Wegweisers“ ist wohl die von „Rückblick“, nach dem A-Dur der „Täuschung“ wieder eine wie gewaltsame Rückkehr in die Realität, jedoch als Subdominante (*) dem mit d-moll und D-Dur begonnenen Weg verbunden. Nicht drängende, fliehende Bewegung zeichnet der Komponist, sondern ruhig gehende, durch „Portatozeichen“ (**) als bedeutsam hervorgehobene Achtel wie in „Gute Nacht“. Das Lied bezeichnet einen neuen Ausgangspunkt: Einen „Weiser“ sieht der Wanderer stehen, „unverrückt vor meinem Blick“, der ihn gnadenlos vorwärts weist. Tonrepetitionen am Schluss des Liedes deuten auf Unerbittlichkeit und Tod: „Eine Straße muss ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Das Lied scheint aber die Frage offenzulassen, ob der Weg, den der „Weiser“ so unverrückbar vorgibt, wirklich auch der Weg des Wanderers sein wird.

Arnold Feil: „Gute Nacht“ und „Der Wegweiser“ haben den Charakter einer unverwechselbaren Bewegung, der bei aller Ähnlichkeit grundverschieden ist: in „Gute Nacht“ enttäuscht, resigniert, müde, aber dennoch „positiv gehend“, im Wegweiser unabänderlich, unwiderstehlich, zwanghaft getrieben gehend.

21. Das Wirtshaus - „Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht ...“

Des-Dur - Original F-Dur, Tempo: Sehr langsam


Der Weg führt zunächst, dem „Weiser“ folgend, in „Das Wirtshaus“, auf „einen Totenacker“. F-Dur ist die Tonart der Ruhe, des Friedens. Das Lied ist beherrscht von jenen daktylischen Rhythmen (− v v), die auf Grenzüberschreitung deuten, auf den Weg in die Erlösung. Doch was am Ende der „Einsamkeit“ noch möglich schien, ist jetzt dem Wanderer versperrt: Die „unbarmherz'ge Schenke“ ist Illusion wie das A-Dur der „Täuschung“.

Arnold Feil malt sich beim „Wirtshaus“ folgende Szene aus: Der Weg führt den Wanderer an einem Friedhof vorbei, auf dem man gerade jemand beerdigt. Der Wanderer bleibt stehen und beobachtet das Geschehen aus der Ferne. Dabei verbinden sich seine Gedanken mit der Musik, die eine Blaskapelle zu jenem Leichenzug dort spielt. Hier spricht ein Mensch, findet den Ausdruck seines Ichs in dieser Situation, dort spielen Musiker, was jenseits alles Persönlichen zum liturgischen Geschehen gehört.

Arnold Feil: Schuberts Melodie wurzelt im Kyrie aus dem gregorianischen Requiem, das heißt im Prozessionsgesang der Totenmesse. Das ganze Lied ist von diesem Gesang bestimmt. Durch diesen Bezug ist der Schlüssel gefunden zu der Frage, die Musiker wie Hörer eh und je beschäftigt hat: Wie kann ein Lied aus solcher Situation des Menschen so ruhig sein (als einziges im ganzen Zyklus hat es die Tempobezeichnung „Sehr langsam“)? Was ist es, das diesem Satz solchen Ernst verleiht? Es ist eine Art liturgische Haltung und die Bindung der Komposition in alten Bereichen liturgischer Musik, die bis heute ihre Wirkung nicht verloren hat. Die F-Tonart (Tonart im gregorianischen Choral, dem Kyrie des gregorianischen Requiems entsprechend) ist hier nicht das gewohnte Dur. Sie spiegelt das Abgeklärte, Nicht-Affektvolle, Ruhige, Großatmige, Friedliche, auch das Ergeben-Weihevolle. Sie verkörpert etwas, das nicht erst durch das harmonische Dur, etwa seit dem 17. Jahrhundert, ermöglicht wurde.

22. Mut - „Fliegt der Schnee mir ins Gesicht ...“

es-moll - Original g-moll (Autograph a-moll), Tempo: Ziemlich geschwind, kräftig (Autograph: Mäßig, kräftig)


Mut kehrt zur Tonart des „Wegweisers“ zurück nach g-moll. Schmerz und Leid werden verdrängt; wenn die Natur dem Wanderer nicht zu Hilfe kommt, muss er sich selber helfen: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“

Arnold Feil: Mit „Mut“ reißt sich der Wanderer - wie schon einmal: „Im Dorfe“ - los von dem, woran sein Herz hängt, wovon es spricht, was seine Ohren hören wollen. Er schreitet aus, um fortzukommen. „Mut“ ist ein Geh-Lied, nach dem man, wie schon einmal im „Stürmischen Morgen“, seine Schritte richten kann. Er singt, um zu übertönen, „was das Herz im Busen klagt“: Mut ist ein Lied im Liederzyklus. Der Wanderer singt aber auch, um sich singend zu lösen von dem, was hinter ihm liegt: „Mut“ ist kein einfaches, kein „gewöhnliches“ Lied. In „Mut“ gibt nicht Musik dem aufbegehrenden Trotz seinen Ausdruck (durch Vertonung, zur Steigerung, zur Verdeutlichung des im Text enthaltenen Ausdrucks), „Mut“ ist als Musik das Aufbegehren des Menschen, konkret des Menschen, an dessen Schicksal wir in Schuberts Liederzyklus hörend teilhaben so, dass wir mit ihm eins zu sein glauben, dass wir, obwohl Zuhörer, die Distanz zum Kunstwerk aufgeben.

23. Die Nebensonnen - „Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn, hab lang und fest sie angesehn ...“

F-dur - Original A-Dur, Tempo: Nicht zu langsam (Autograph: Mäßig)


(Schubert hat die Reihenfolge der Lieder „Mut“ und „Nebensonnen“ bei Wilhelm Müller vertauscht und den „Mut“ zwischen „Das Wirtshaus“ und „Die Nebensonnen„ gesetzt, so dass „Die Nebensonnen“ das letzte Lied vor „Der Leiermann“ ist.)

„Nebensonnen“ („Parhelia“): Das Erscheinen von zwei kleineren Sonnen neben der Sonne ist ein optischer Lichteffekt, der durch Reflexion und Brechung von Licht an Eiskristallen entsteht. Dieses Lichterscheinung ist eher im Winter zu sehen.

Das vorletzte Lied schließt nochmals an die „Täuschung„ an und an den „Frühlingstraum“: A-Dur, die Tonart der Illusion. Zum letzten Mal erinnert sich der Wanderer seiner Geliebten, ihrer Augen, die ihm wie Sonnen strahlten. Aber das waren keine wirklichen Sonnen - Nebensonnen waren es, Irrbilder, die nun erloschen sind. Der Wanderer geht ja auch nicht - seine Gedanken bewegen sich wieder im Tanz, wie in „Wasserflut“ und „Irrlicht“ zu den wiegenden Rhythmen einer Sarabande. Sein Weg ist zu Ende.

Arnold Feil: „Das Wirtshaus“ und „Die Nebensonnen“ sind in ihrer Schlichtheit trotz der differenzierten Faktur, in ihrer Haltung fern aller Wehmut doch von tiefer Trauer, in ihrer gleichermaßen abschließenden Wirkung nahe verwandt. Warum aber ein doppelter Schluss, wozu dazwischen das Aufbegehren des „Muts“? Schubert hat ähnlich wie Müller den Schluss in der Verbindlichkeit von Tradition und Gemeinschaft offenbar vermeiden wollen. Einsam, in der Einsamkeit, die er gesucht und gefunden hat, sollte sein Wanderer, der Mensch, sinken wie die sinkende Sonne: „Im Dunkeln wird mir wohler sein.“

24. Der Leiermann - „Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann ...“

f-moll - Original a-moll (Autograph: h-moll), Tempo: Etwas langsam


Eine Drehleier ist ein von einem Rad gestrichenes Saiteninstrument mit durchgängig klingenden Bordunsaiten (Liegetöne, im Lied die Quinte a und e im Bass), über denen mit Tasten eine Melodie gespielt werden kann.

Im letzten Lied verwandelt sich die Fiktion des A-Dur in a-moll, Tonart der Resignation, der Melancholie, trister Realität. Offenbar meint diese Tonart hier die Überwindung des eigenen Schicksals durch seine völlige Annahme, den Verzicht auf Utopie, auch auf den eigenen Weg. Die zwei Nebensonnen sind untergegangen - der Wanderer gesellt sich zu dem Leiermann, den niemand hören will, dessen Teller immer leer bleibt und der dennoch seine Leier dreht. Das Lied führt in die endgültige „Erstarrung“, in die unbedingte „Einsamkeit“, in der auch das eigene Gefühl gestorben ist. Der Leiermann erscheint wie der Todesbote - aber nicht als Erlöser; dieser Tod ist diesseitig, er führt zum Ende. Freilich - ganz sicher sind wir dessen auch nicht. Das Lied endet mit der offenen Frage (schwebender offener Quintschluss): „Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“ Führen diese - kommenden - Lieder doch noch über das Ende hinaus? Brechen sie das Eis endgültiger Vereinsamung auf?

Arnold Feil: Schuberts Wanderer singt am Schluss - richtiger nach dem Schluss - seiner Winterreise den „Leiermann“: Verkörperung zeitlosen, vom Menschen und vom Menschsein gelösten Geschehens. Dementsprechend bleiben die Elemente der musikalischen Komposition hier gleichsam zeitlos ungestaltet. Bordun Quintklang - ein Klang anstelle einer Tonart, jegliche konstituierende Kadenz fehlt. Nur am Schluss spüren wir einen Hauch des Ichs, wenn zur letzten Frage „Willst zu meinen Liedern...?“ zum ersten und einzigen Mal melodisch der Raum einer Oktave überschritten ist und der Instrumentalpart sich zu zwei begleitende Akkorden entschließt, wenn als Folge davon die vier instrumentalen Schlusstakte im Zurücksinken zu beben scheinen. Man hat im „Leiermann“ am Ende der Winterreise eine Art ironischen Selbstportäts von Schubert sehen wollen. - Schubert hat hier in gewisser Weise das Ende der abendländischen Musik, wie tausend Jahre Geschichte des mehrstimmigen Satzes (vom 9. bis ins 19. Jahrhundert) sie definiert haben, gekennzeichnet: In den „Nebensonnen“ ist musikalische Struktur als brüchig komponiert, im „Leiermann“ die Tonalität als Grundlage ignoriert - ein neues Zeitalter der Musik ist angebrochen.

© Johannes Quistorp 2019